Kinship: Historical and contemporary frontiers

Kinship: Historical and contemporary frontiers

Organisatoren
Europäisches Hochschulinstitut (EUI) Florenz, Leitung: Giulia Calvi (EUI Florenz, Geschichte), Martin Kohli (EUI Florenz, Sozial- und Politikwissenschaften), Sigrid Weigel (Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin)
Ort
Florenz
Land
Italy
Vom - Bis
15.05.2008 - 17.05.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Joachim Eibach, Fernand Braudel Fellow am EUI Florenz

Auf eine kritische Frage zum Zustand der Gesellschaft soll Margaret Thatcher einmal geantwortet haben: „There is no societies, but only individuals“ und nach einer Pause: „…and families!“ In seiner Einführung zu der interdisziplinären Konferenz Kinship: Historical and contemporary frontiers, die vom 15. bis 17. Mai am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz stattfand, skizzierte MARTIN KOHLI, dass die moderne Soziologie, ausgehend von der ‚Durkheim-Parsons Orthodoxie’, das Thema Verwandtschaft oder Familie im weiteren Sinne (kinship) lange Zeit negiert habe. Émile Durkheim und Talcott Parsons hatten einen Bedeutungsverlust verwandtschaftlicher Beziehungen jenseits der Kernfamilie als Signum der Moderne festgestellt bzw. vorausgesagt. Während der letzten zwanzig Jahre dominierten so in der Soziologie Individualisierungstheorien. Auch in der allgemeinen Öffentlichkeit wurde und wird immer wieder über zunehmende Individualisierung und den Verlust sozialer Bindungen, wie zum Beispiel Verwandtschaft, geklagt. Aber, so die Hypothese Kohlis, sowohl die Theorien als auch die Klagen, die sich auf den Bedeutungsverlust von Verwandtschaft beziehen, haben sich als übertrieben erwiesen. Vielmehr scheint es im 21. Jahrhundert zu einer „hidden Renaissance“ der Familie zu kommen. Verwandtschaft hat, wie Familie im engeren Sinne, als strukturierender Faktor sozialer Beziehungen überlebt, wenn auch gerade die Familie als Institution öffentliche Unterstützung benötige.

Nicht nur die Soziologie, sondern auch die Geschichtswissenschaft und sogar die Anthropologie hat der kinship während der letzten Jahrzehnte vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt, gleichwohl dieses Untersuchungsfeld ehedem geradezu eine Domäne der Anthropologen war. GIULIA CALVI verwies in ihrem Eröffnungsreferat aus historiographischer Perspektive demgegenüber auf die Bedeutung, die kinship im Zusammenhang mit Staatsbildung und Klassenbildung zukomme. Zudem blieb laut neuester Studien die Heirat von Cousins bzw. Cousinen bis Ende des 19. Jahrhunderts in Europa ein häufiges Phänomen.1Kinship hat sich im Verlauf der Geschichte, auch über die Schwelle zur Moderne hinweg, als eine flexible, anpassungsfähige Ressource erwiesen. Das Ziel der interdisziplinären Konferenz sei deshalb, so Calvi, die veränderlichen Formen und Bedeutungen von kinship in der Geschichte wie in der Gegenwart epochenübergreifend zu diskutieren und dabei auch die Kernfamilie als ein Charakteristikum der fortgeschrittenen Moderne zu verstehen. Zwischen kinship-Forschung und gender studies bestünde dabei ein produktives Spannungsverhältnis. Insgesamt stimmten die beiden Organisatorinnen und der Organisator der Tagung darin überein, dass sich die Vernachlässigung der Thematik in den Kulturwissenschaften als Fehler erwiesen hat: „There is a renewed interest in kinship as a grammar of social interaction, as a basis for interpersonal support and exchange, as a pillar of social security and the welfare state, as a link cross the discontinuities of migration, and as an embedding structure for economic transactions and organizations.”

Unter der Überschrift ‚Contested categories: Genealogies, adoptions and spiritual ties’ wurden in der ersten Sektion Typen und Lebensformen während der Moderne diskutiert, die eine Herausforderung für das Modell der christlich-bürgerlichen Familie darstellten. STEFAN WILLER und ULRIKE VEDDER verdeutlichten, dass in Literatur und Wissenschaft des 19. Jahrhunderts parallel zu der als ‚natürlich’ verstandenen Familie das Genie und das Junggesellendasein in einem spiegelbildlichen Gegensatz konstruiert wurden. Sie verkörperten gleichsam ein Defizit bzw. eine Unordnung. Insbesondere das ambivalente Konzept des Genies erfuhr dabei seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts starke inhaltliche Veränderungen und wurde schließlich im späten 19. Jahrhundert biologistisch konfiguriert (Willer). Adlige Junggesellen hatten schon in der Frühen Neuzeit mit Sanktionen der Obrigkeit zu rechnen und galten später als bedrohlich, obwohl die ledig Bleibenden als Onkel und Tanten durchaus familiär integriert waren (Vedder). Im kolonialen Kontext traf das katholische Konzept der monogamen Ehe als unauflösliches Sakrament, wie KATHARINA STORNIG am Beispiel Neu Guineas in den 1920er-Jahren aufzeigte, auf andere, indigene Ehepraktiken. Die Versuche der Nonnen, ein europäisch-westliches Verständnis der Ehe unter den Einheimischen durchzusetzen und tradierte soziale Bindungen im Dorf durch „spiritual kin“ zu ersetzen, schwankten zwischen verbaler Überredung und Zwang. Das vierte Referat der Sektion lenkte den Blick zurück nach Europa, und zwar auf das Beispiel der Adoption im Nachkriegspolen. Der polnische Fall ist aus mehreren Gründen interessant. Hier gab es nach dem Zweiten Weltkrieg eine große Anzahl von Waisenkindern, also ein ‚reales’ Problem; zwischen Nation und Familie wurden im politischen Diskurs enge Parallelen gezogen; die kürzlich erfolgte Öffnung des EU-Rechts für gleichgeschlechtliche Paare rief in Polen ablehnende Reaktionen hervor. STEFANIA BERNINI skizzierte anhand der Adoptionsfrage die Bedeutung der traditionellen Familie im nationalen Diskurs in Polen. Alle Vorträge der Sektion ließen Ehe und Familie als eine stets bedrohte, störungsanfällig wahrgenommene Institution erscheinen. Dieser Befund korrespondiert zweifellos mit der hohen normativen Aufladung des Phänomens Familie im europäischen Diskurs auch noch während der Moderne.

CHRISTIANE KLAPISCH-ZUBER wählte in ihrem Abendvortrag einen gänzlich anderen Zugang zum Thema der Tagung und beleuchtete mittels zahlreicher Darstellungen die Imagination von Genealogien und Dynastien im europäischen Mittelalter. Typische, häufig genutzte Symbole waren die Quelle, das Haus, der menschliche Körper und nicht zuletzt das bis heute immer wieder genutzte Bild des Baumes. Der Zweck des Baumsymbols, das sich als genealogisches Motiv nicht nur in Europa findet, war, wie Klapisch-Zuber erläuterte, ein durchaus theoretischer, nämlich die Möglichkeit, unterschiedliche Verwandtschaftsgrade aufzuzeigen und rechtlich zu nutzen.

Den gemeinsamen Nenner der Sektion ‚Kinship in firms and professions’ bildete die Einsicht in die Relevanz von Verwandtschaft im ökonomischen Sektor, und zwar in der Frühen Neuzeit wie auch und gerade in Gestalt von Familienunternehmen in der Gegenwart. SANDRA CAVALLO skizzierte, wie es im städtischen Kontext Norditaliens während des 17. Jahrhunderts vor allem im Handwerk zu informellen Adoptionen durch Onkel und weitere Verwandte kam, die rechtlich und faktisch die Rolle von Vätern übernahmen. Zugleich rekrutierten sich Verwandtschaft und Patenschaft häufig aus dem Bereich örtlicher Nachbarschaft. BARBARA CURLI fokussierte, wie Frauen in Mittelitalien nach dem Zweiten Weltkrieg in Familienunternehmen zu Wirtschaftswachstum und Industrialisierung beitrugen. Sie vertrat die These, ‚gender’ habe die Arbeit im Unternehmen ebenso geprägt wie umgekehrt die gemeinsame Arbeit Vorstellungen von ‚Mann’ und ‚Frau’ bestimmt hätten.

Der vor dem Hintergrund soziologischer Theorien überraschende Erfolg von Familienunternehmen in einer globalisierten Welt war Gegenstand des Referats von HAROLD JAMES. Sein Ausgangsbefund war die bemerkenswerte Präsenz von Familienunternehmen auf den obersten Rängen in der Tabelle profitabler Firmen in Europa, Lateinamerika und Asien. Die USA und Großbritannien figurieren hier indes als Ausnahmen. Für das späte 20. Jahrhundert konstatierte James sogar eine Art Renaissance der Familienidee in der ökonomischen Sphäre. Er erklärte dies mit dem Umstand, Familien böten in Zeiten des Umbruchs Kontinuität und Vertrauen als Ressourcen an. NICOLE SCHMIADE und ISABELL STAMM betonten ebenfalls, Familienunternehmen entwickelten besondere Strategien im Umgang mit ökonomischem Wandel. Sie verwiesen auf einen bestimmten ‚spirit’ der Akteure, in Konnex mit tiefer emotionaler Bindung oder auch Familienmythen (Gründungslegenden etc.), der eine wichtige Rolle spielen könne. In der Diskussion ergänzte Martin Kohli, der Erfolg von Familienunternehmen am Markt beruhe oft auf einer bekanntermaßen traditionsreichen Marke als Garantie für Authentizität.

Die Sektion ‚Kinship in welfare and migration’ öffnete ein weiteres Fass der Thematik. PIER PAOLO VIAZZO vermittelte zunächst einen konzisen Abriss der Forschungsleitlinien in der Historischen Demographie seit den 1960er-Jahren. Die anhand quantitativer Methoden ermittelten Faktoren Haushaltsgröße und Haushaltstyp hatten bekanntlich die sozialhistorische Familienforschung lange Zeit primär beschäftigt und das so genannte ‚European Marriage Pattern’, westlich einer Linie zwischen Sankt Petersburg und Triest, sowie eine weitere Teilung zwischen Nord- und Südeuropa als Kontrast zwischen kleinen, einfachen und größeren, erweiterten Haushalten als Fixpunkte der Forschung entstehen lassen. Nachdem diese Trennlinien lange Zeit in Abrede gestellt wurden, lassen sie sich, so Viazzo, heute erneut mit Blick auf die Präsenz staatlicher Fürsorge und – im Kontrast – das Vertrauen in Unterhalt durch Familien verifizieren. Mit anderen Worten: Wir finden ‚strong family countries’ mit geringer staatlicher Fürsorgeleistung in Südeuropa, das umgekehrte Modell in Nordeuropa und so unter dem Strich ein hohes Maß an historisch-kulturell determinierter ‚path dependence’. Der Vortrag von FRANCA VAN HOOREN über Haushaltshilfe durch Migranten in Italien und den Niederlanden im Vergleich verwarf das zuvor vorgestellte Modell zwar nicht, ließ es aber in einem etwas anderen Licht erscheinen. Ihr Befund war, dass die insbesondere von Alleinerziehenden und alten Alleinstehenden in Anspruch genommene Hilfe in Italien zunehmend gegen Entgelt von Frauen aus Osteuropa geleistet wird, während entsprechende Gruppen in den Niederlanden staatliche Fürsorge beziehen. Der Import von Pflegekräften erscheint, so Kohli, als „Surrogat einer familiären Lösung“.

Die letzten beiden Vorträge der Sektion untersuchten die Relevanz von kinship im Kontext von Migration, zunächst in der Gegenwart am Beispiel der Ehemigration nach Deutschland (LAURA BLOCK), sodann in historischer Perspektive anhand der Migration von Frauen aus Norwegen nach Amsterdam im 17. Jahrhundert (KARIIN SUNDSBACK). Die deutsche Gesetzgebung im Hinblick auf den Nachzug von Ehegatten, faktisch in 70 Prozent der Fälle von Frauen, lässt sich als ‚double standard’ im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen EU-Bürgern und Bürgern bzw. Bürgerinnen bestimmter anderer Länder skizzieren, wobei indes über die Implikationen eines Zwangscharakters arrangierter Ehen noch nichts gesagt ist. Das Beispiel der norwegischen Einwanderung nach Amsterdam in der Frühen Neuzeit zeigt, dass als Folge der Migration soziale Netzwerke, von Sundsback „social kinship“ genannt, alte familiäre Bindungen, „biological kinship“, ersetzten. Dies ließe sich anhand von Gerichtsakten und Wohnverhältnissen zeigen. Der Begriff „social kinship“ wurde kontrovers debattiert.

Eine kurze letzte Sektion diskutierte ‚Challenges for contemporary regulation’. IRÈNE THÉRY ließ zunächst verschiedene Konzepte des Begriffs ‚Familie’ in historischen Theorien des Gesellschaftsvertrages und in der Soziologie Revue passieren, während die Grundkategorie in der Anthropologie nicht ‚Familie’ im engeren Sinne, sondern eben Verwandtschaft (kinship) sei. Théry plädierte mit Nachdruck für ein neues Verständnis des Paares, jenseits der immer noch allein akzeptierten heterosexuellen Ehe zwischen Mann und Frau. In der Diskussion wurde auf die zunehmende Auflösung traditioneller Rollen und die tendenzielle Angleichung ehelicher und nicht-ehelicher Haushalte im Recht hingewiesen. Im letzten Vortrag der Tagung skizzierte GIULIA ZANINI die in mancher Hinsicht umstürzenden Konsequenzen der Entwicklung von Methoden künstlicher Befruchtung. Als Folge der neuen Möglichkeiten von ‚assisted reproductive technologies’ müssen Begriffe wie ‚natürliche Verwandtschaft’ und ‚Natur’ selbst überdacht werden. Im Hinblick auf kinship kommen ganz andere, neuartige Faktoren, Technologien, Institutionen und Märkte ins Spiel. Die Zukunft ist unabsehbar.

Die wichtigsten Aspekte der Tagung wurden von Therese Lützelberger zusammengefasst. Giulia Calvi verwies in der Abschlussdiskussion auf die verschiedenen Perspektiven der Kategorien ‚gender’ und kinship, wobei ‚gender’ es eher erlaube, Konflikte zu thematisieren. Sandra Cavallo betonte die Bedeutung der ‚conjugal family’ als tägliche Praxis. Joachim Eibach stellte die Frage, was kinship in der Praxis ausmache und zusammenhalte. Im Verlauf der Tagung fielen diesbezüglich wiederholt die Stichwörter räumliche Nähe (‚proximity’) und ‚Ritual’ für die Vormoderne und ‚Vertrauen’ sowie Zuerkennung von ‚Authentizität’ oder ‚Natürlichkeit’ für die Moderne. In literarischen Bildern finden sich oft ‚Gegenspieler’ zum normativ betonten Familienmodell. Epochenübergreifend wird kinship auffallend häufig in – großen wie kleinen – wirtschaftlichen Zusammenhängen im weiteren Sinne wirksam. Martin Kohli wies schließlich auf Geburtenraten als Indikator und Faktor hin. Eine Gesellschaft mit einer niedrigen Geburtenrate wird irgendwann keine Gesellschaft mehr sein bzw. – in der Diktion Margaret Thatchers – weder Individuen noch Familien hervorbringen.

Kurzübersicht:

Einführung: Martin Kohli (EUI) / Giulia Calvi (EUI)

I. Contested categories: Genealogies, adoptions and spiritual ties
Chair: Giulia Calvi (EUI)
Stefan Willer / Ulrike Vedder (ZfL Berlin): The genius and the bachelor: Genealogical failures in 19th century literature and science
Katharina Stornig (EUI): Religious female orders in 20th century colonial settings: Competing for kinship
Stefania Bernini (EUI): Adoption in 20th century Poland

Keynote address
Christiane Klapisch-Zuber (EHESS Paris): Kinship symbols and images in Europe

II. Kinship in firms and professions
Chair: Martin Kohli (EUI)
Harold James: (Princeton Univ. und EUI): Family firms in the 20th century
Nicole Schmiade / Isabell Stamm (FU Berlin): Family enterprises and entrepreneurial families
Barbara Curli (Univ. della Calabria): Business women in Central Italy: Kinship, entrepreneurial skills and modernization from a historical perspective
Sandra Cavallo (Royal Holloway Univ. of London): Transmission of the trade and professional partnerships between kin in the early modern artisan world

III. Kinship in welfare and migration
Chair: (für die wegen Krankheit ausgefallene Sigrid Weigel) Harold James (Princeton Univ. und EUI) / Joachim Eibach (Univ. Bern und EUI)
Pier Paolo Viazzo (Univ. di Torino): European kinship patterns and the welfare state
Franca van Hooren (EUI): Migrant domestic carers in Italy and the Netherlands
Laura Block (EUI): Marriage migration
Kariin Sundsback (EUI): Women migrants from Norway to Amsterdam in the 17th century

IV. Challenges for contemporary regulation
Chair: Giulia Calvi (EUI)
Irène Théry (Univ. de la Méditerranée Aix Marseille II): New forms of alliance
Giulia Zanini (EUI): New reproductive technologies

Abschlussdiskussion

Anmerkung :
1 David Sabean; Simon Teuscher; Jon Mathieu (Hrsg.), Kinship in Europe. Approaches to long-term Development (1300-1900), New York und Oxford 2007.